Text zur Ausstellung "Der Gletscher kalbt", im Museum Baden, Solingen
 
 
 
 
 
Oliver Zybok
 

Der Gipfel der Superlative


Unzufriedenheit wird in modernen Gesellschaften auf hohem Niveau kultiviert. Das Streben nach Glück wird zum Ersatz für das Glück selbst, oder, um es mit den Worten von Albert Hirschman zu sagen: „the pursuit of happiness" bringt den „happiness of pursuit". Für diesen Sachverhalt haben Soziologen die paradoxe Formel gefunden, dass gerade Unruhe eine Stabilitätsbedingung gesellschaftlicher Systeme darstellt. Das bedeutet, dass Begehren, das eigentlich unersättlich ist, die nötige Unruhe nach sich zieht - alltäglicher Ärger beunruhigt und Neugier irritiert. Gerade die Instabilität des Menschen, seine Neugier, sein Begehren, sein Unbehagen erweisen sich also als Bedingung der Stabilität der Gesellschaft. Diese Unruhe wird von verschiedenen gesellschaftlichen Systemen, vor allem aber von der Wirtschaft, durch schnelle Wechsel der Moden gepflegt. Um immer wieder von neuem neu zu sein, muss man sich ständig von etwas neuem Altem abstoßen. Das Lustvolle, Stimulierende des Konsums liegt daher nicht in der Befriedigung von Bedürfnissen, sondern gerade in der Nichtbefriedigung, die das Begehren neu entflammt. Nur Unlust eröffnet Lust!
 
Gerade gegen den Strom der eigenen Neigungen erreicht man die größten Genüsse. Das Neue muss anders sein, aber nicht radikal anders, sondern anschlussfähig anders. Was nicht neu genug ist, wird als langweilig empfunden, was zu neu ist, als befremdlich - alles Neue erregt; alles Überraschende stimuliert. Durch eine übertriebene Stimulation, nennen wir sie Superstimulation, entsteht jedoch Stress, der die Konzentration beeinträchtig; Bequemlichkeit ist die logische Konsequenz. Aus diesem Grund leben wir in der mit Recht so bezeichneten Wohlstandsgesellschaft zunächst und zumeist komfortabel. Doch aus dem Komfort resultiert Langeweile - und daraus befreit uns nur die Stimulation des Neuen. Wer sich an neuem erfreuen will, muss es aber erst lernen. Daher bereitet uns der Reiz des Neuen, Unbekannten oft Unbehagen - und daraus flüchten wir in den Komfort. Aus dem Komfort ergibt sich Langeweile ... und so fort.

 

Ein Bereich, der diese Entwicklungen immer wieder aufs Neue durchleuchtet und versucht, eine Stimulation durch Gegenstrategien zu erarbeiten, ist die Kunst. Die projektbezogen zusammenarbeitende fünfköpfige Künstlergruppe Die Werft - Björn Borgmann, meino.de, Eckehard Lowisch, Kurt Majewski und André P. - haben ein Projekt mit dem Titel ‚Der Gletscher kalbt’ konzipiert, das die ewige Suche nach Befriedigung und Neuem ironisch kommentiert. Sie sind sogar noch einen Schritt weiter gegangen, indem sie das triviale Phänomen der Superlative integrierten. Die Superlative als der Gipfel des Neuen. Die einhellige Meinung der Gruppe lautet: „Wenn jeder Zwerg ein Gigant ist und in den Olymp unserer Idole erhoben wird, wenn Künstler durch Superstars ersetzt werden, hat der Mainstream gewonnen und die Kreativität verdrängt."
 
Das Projekt ‚Der Gletscher kalbt’ gliedert sich in zwei Phasen. Die erste war von einem gruppendynamischen Aktionszeichnen in einer Papierfabrik bestimmt. Es entstand mit 8900 Metern Länge und 2,10 Metern Breite die längste Zeichnung der Welt. Das auf einer Rolle befindliche Papier wurde über eine Walze innerhalb eines Zeitrahmens von ca. 5 Stunden langsam abgewickelt. Während dieser Abrollbewegung zeichneten die fünf Künstler mit Graphitstiften parallel, einmal gingen sie kurzzeitige Kooperationen ein, dann unterbrachen sie den Rhythmus des jeweiligen Nachbarn. Das bereits bearbeitete Papier wurde über die Walze auf eine andere Rolle übertragen. Der Vorgang des Zeichnens erwies sich durch die gleichmäßige Bewegung der Rolle als schwierig, wollte man Gegenstände wie Häuser oder Tassen zu Papier bringen. Die Künstler mussten den Rhythmus der Bewegung in den künstlerischen Prozess integrieren, wobei die Möglichkeit der Korrektur natürlich entfiel, da der Faktor Zeit auch eine Bedeutung besaß: Für ein Motiv blieben jedem Akteur nur wenige Sekunden. So verwundert es nicht, dass lediglich ornamentales Lineament die Papieroberfläche prägt.
 
Was ist das Ergebnis? Wie bereits erwähnt: die längste Zeichnung der Welt, die aller Wahrscheinlichkeit nach einen Eintrag in das Guiness-Buch der Rekorde erhält. War das das Ziel der Künstler? Gewiss, Rekorde erhöhen die Aufmerksamkeit, und die wollten die Künstler erreichen. Doch das eigentlich gewünschte Ergebnis kann man in der Ausstellung finden: Die überdimensionale Graphit-Zeichnung wurde in ein skulpturales Objekt umgewandelt, zusammengeknüllt, gefaltet, gerissen und, wie es Björn Borgmann äußert, „zu einem kalbenden Gletscher geformt". Denn: „Das Kalben oder Gebären von verworfenen, oder auf Eis gelegten Ideen verspricht neue Formen und Zeichen."

 

Im Eingangsbereich der Ausstellung werden die Besucher involviert. Sie betreten mit Museumspantoffeln aus Filz eine auf dem Boden ausgebreitete Papierfläche. Unter der Besohlung sind Graphitplatten befestigt, die den weißen Untergrund „beschmutzen". Der Besucher hinterlässt eine Graphitspur, die den Weg zum „Gletscher" bahnt, dem eigentlichen künstlerischen Ziel, der Papier-Skulptur. Die Anfertigung der Zeichnung war eine Produktion im Schnellverfahren, die zunächst als skurril anmutende Erfahrung für überraschende Effekte sorgte. Aber mit der Annäherung an das Ziel, den Weltrekord, relativierte sich das Interesse aufgrund nachlassender Konzentration. Eine saloppe Formulierung von Eckehard Lowisch bringt dies auf den Punkt: „Eine weltweit offiziell anerkannte wirklich längste Zeichnung der Welt ist eigentlich sofort zu recyceln."
 
Die Künstler haben sich bei dem mehrstündigen Aktionszeichnen einer Superstimulation ausgesetzt, die aber durch den Zeitdruck rasch in Stress ausartete, jedoch schließlich zu einer bequemen, schon gelangweilten Situation führte. Sie haben den Trend zur Superlative relativiert, obwohl sie die Kriterien für einen Weltrekord erfüllten. Denn: Was für eine Relevanz hat innerhalb der Kunst die Länge einer Zeichnung? Der Herstellungsprozess impliziert, „dass es vollkommen irrelevant bei einem solchen Vorhaben ist, ob diese längste Zeichnung der Welt von Künstlerhand oder von einem Dilettanten ausgeführt wird", bemerkt meino.de. Und André P. hinterfragt in diesem Zusammenhang zum Beispiel, „welche Halbwertzeit ein von Dieter Bohlen auserkorener Superstar mit einem Nr. 1 Charterfolg hat." Wie hoch ist die Bedeutung eines Weltrekords einzuschätzen? Die Langeweile wird sich nach Erreichen eines solchen Ziels sehr bald wieder bemerkbar machen und zur Suche nach neuen Weltrekorden ermutigen. Was bei diesem Kreislauf zu kurz kommt, sind das Innehalten und das kritische Hinterfragen. Eine Instanz, die an diesem Punkt ansetzt, ist die Kunst, und ein Projekt, das zum Innehalten auffordert, ist „Der kalbende Gletscher".
 
Die Leute wissen nichts mit ihrer Zeit anzufangen. Wenn sie keine Sorgen haben, langweilen sie sich zu Tode. Alle warten auf „gute Unterhaltung", denn die reagiert auf die Verzweiflung der Langeweile. Man kann sich hier nun - wie Theodor W. Adorno und Neil Postman - kulturkritischen oder - wie Sören Kierkegaard und Martin Heidegger - existenzphilosophischen Reflexionen anschließen, aber es genügt schon die Einsicht, dass Langeweile der Wunsch nach einem Begehren ist. Es mangelt an Mangel und Irritationen. Bereits neurologisch gilt: Langeweile ist der Feind des Gehirns. Aus diesem Grund brauchen wir Sport, Hobbys, Sex, Drogen und Musik. Von der Neurologie zur Soziologie ist es dann nur ein Schritt: Die Grunddynamik des modernen Lebens ist die Flucht vor der Langeweile. Aus der Sackgasse, in die uns das Bedürfnis nach Komfort gesteuert hat, kann uns nur die Stimulation des Neuen befreien. Mit dem raschen Wechsel der Moden kompensiert unsere Kultur mangelnde Varietät. Ähnlich versuchen einige der Monotonie der Monogamie durch Kettenehen zu entgehen. Das Neue (oder eben: die Neue) ersetzt das Wesentliche. Daher kann nur noch das Neue (oder eben: die Neue) für wesentlich gehalten werden. Sein ist Erregtsein. Der puritanische Kapitalismus hat immer nur die Geschicklichkeiten der Produktion kultiviert.

 

Erst Thorstein Veblens Begriff „conspicuous consumption" hat darauf aufmerksam gemacht, dass man nicht nur konsumiert, sondern den Konsum zugleich auch ausstellt und darstellt. Der Marktplatz ist auch ein Schauplatz der Prahlerei. Gleiches gilt für eine Galerie, die Kunst verkauft, und ebenfalls für das Museum. Wir alle spielen Theater - gerade auch wenn wir konsumieren. Verkaufen lässt sich heute deshalb nur noch, was einen „Inszenierungswert" besitzt. Die Künstlergruppe Die Werft verdeutlichte mit dem Projekt ‚Der Gletscher kalbt’, dass das Spielfeld des ästhetischen Handelns ein Labor möglicher Handlungen im Kontext einer Wirklichkeitsbestimmung darstellt, die nicht mehr über die tradierten kulturellen Codes vermittelbar scheint. Indem sie einen Weltrekord inszenierte, der auf eine schnelle Reaktionszeit und wenig inhaltliche Akzente setzte, nahm die Gruppe eine antikünstlerische Haltung ein. Denn wie alle Beteiligten bekunden, ist der künstlerische Wert der längsten Zeichnung der Welt mehr als fragwürdig. Trotzdem stellt sie einen allgemein bewunderten Weltrekord dar. Die Umwandlung der Zeichnung in eine Skulptur war folglich die eigentliche Herausforderung für Björn Borgmann, Eckehard Lowisch, Kurt Majewski, meino.de und André P. Denn durch die raumprägenden Faltungen des Papiers erhielt das vielfältige Lineament eine neue visuelle Aussagekraft und verlor dadurch seinen ursprünglichen Charakter eines inhaltslosen „Schnellprodukts".